Zeitzeugenbericht aus dem Beiderstädtischen Postamt

 

Der folgende Bericht wurde am 21. April 1927 in der Berliner Briefmarken - Zeitung veröffentlicht [PaalJ, S.67].

Der Artikel besteht aus drei Teilen, zu Beginn ein kurzer redaktioneller Abschnitt, dann einem Abschnitt in dem der Philatelist Dr. Munk darstellt, wie es zu dem Bericht gekommen ist und wie er ihn einordnet und zu guter Letzt der eigentliche Bericht von John Paalzow.

 

 

Das beiderstädtische Postamt in Bergedorf

 

von John Paalzow, Sohn des verstorbenen Postmeister

Franz Paalzow in Bergedorf

 

Dr. Munk, die zur Zeit wohl am meisten genannte philatelistische Persönlichkeit, gleichviel ob in seiner Eigenschaft als Herausgeber des Kohl-Handbuches oder als Preisrichter- denn welche Ausstellung ohne Dr. Munk ist eine richtige Ausstellung? - hat uns in liebenswürdiger Weise den vorliegenden Aufsatz zur Verfügung gestellt, der eine interessante Ergänzung zu dem vorangegangenen Artkel aus der Feder Dr. Werners bildet. Dr. Munk hatte Gelegenheit, während der New Yorker Ausstellung Mr. John Paalzow, den Sohn des verstorbenen Postmeisters Franz Paalzow in Bergedorf kennen zu lernen, der ihm den nachfolgenden Bericht gab. Dr. Munk-Paalzow schreiben also:

 

Während unserer kurzen Unterhaltung berichtete mir Mr. Paalzow, daß er seinem Vater oft bei den Amtsgeschäften geholfen habe, und daß er sich der Vorgänge dort noch genau erinnere. Ich machte Mr. Palzow sofort darauf aufmerksam, wie wertvoll diese Tatsache bei der großen Anzahl der auch heute noch umstrittenen Bergedorf-Fragen sei, und wir verabredeten für die nächsten Tage eine Zusammenkunft in der Ausstellung, bei der ich Mr. Paalzow einige besonders wichtige Fragen vorlegen wollte. Infolge der Dauersitzungen des Preisgerichtes und anderer Konferenzen verfehlte ich aber Mr. Paalzow leider, und als ich später wieder Zeit hatte, gelang es mir nicht mehr, ihn aufzufinden. Ich war daher um so mehr erfreut, als ich im Januar d. J. von Mr. Paalzow den folgenden Bericht erhielt, den ich im Wortlaut zum Ausdruck bringe.

Die Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit, mir der derselbe die Vorgänge und Einrichtungen des Bergedorfer Postamts schildert, sind schon an sich herzerfrischend. Er enthält aber auch eine ganze Anzahl wichtiger neuer Angaben, und zwar sowohl für die Forschung, wie für den Prüfer, während er in anderen Fällen eine wertvolle Bestätigung dessen gibt, was bereits vermutet wurde. Die Frage ist, ob die von Mr. Paalzow nach dem Gedächtnis gemachten Angaben nach so langer Zeit noch in allen Punkten genau zutreffen. Für eine solche Zuverlässigkeit spricht außer der ganzen Darstellungsweise des Berichts mit seinen vielen Einzelheiten die Tatsache, daß viele rein nach dem Gedächtnis gemachten Angaben Paalzows fast genau mit dem übereinstimmen, was die deutsche Bergedorf-Forschung inzwischen auf ganz anderem Wege festgestellt hat. Wer außerdem den vortrefflich aussehenden alten Herrn selbst kennengelernt hat, wird das Zutrauen haben, daß seine Erinnerungen genau so frisch wie er selbst geblieben sind.

Diejenigen, die mit den Marken und Abstempelungen Bergedorfs sowie mit der Bergedorf-Literatur etwas vertraut sind, werden leicht selbst herausfinden, welche Angaben des nachfolgenden Berichtes besonders wichtig sind. Ich werde daher nach Abdruck desselben nur auf diejenigen Punkte kurz hinweisen, die noch weiterer Aufklärung bedürfen, bzw. die leicht mißverstanden werden könnten. Hinsichtlich einiger Angaben Mr. Paalzows verdient vielleicht Erwähung, daß sich seine Erinnerungen hauptsächlich auf die Zeit bis April 1863 beziehen dürfen, da er von dieser Zeit ab (vgl. unten) nur noch Sonntags nach Bergedorf herüberkam.

 

Mr. Paalzows Bericht.
Es ist mir gesagt worden, ich sollte die Erinnerungen aus meine Jugendzeit über das Innere des Postwesens in Bergedorf beschreiben, da ich doch vielleicht nur der einzige Lebende bin, der sich dieser Sache erinnert. Zuerst will ich denn sagen, daß ich im Oktober 1848 in Bergedorf geboren bin und dort wohnte, bis ich im April 1863 als Lehrling in ein kaufmännisches Geschäft in Hamburg eintrat. Während der nächsten vier Jahre ging ich jeden Sonntag nach Hause. Im April 1867 ging ich nach den Vereinigten Staaten von Amerika, wo ich seit der Zeit geblieben bin.

Nur eine kurze Strecke davon fort, und dem Bahnhof der Berlin-Hamburger Eisenbahn gegenüber, war das Bergedorfer Postamt in einem Hause mit zwei Etagen. Unten wurden zwei Zimmer für das Postamt gebraucht, und es waren dort auch die Küche und zwei andere Wohnzimmer, und oben wohnte mein Vater mit seiner Familie. Daher kam es denn, daß ich als Knabe viel im Postkomptoir
war und mich von dem Vorgehen dort vieles erinnere. Außer meinem Vater war da ein Schreiber und die Briefträger. Nach der Ankunft des Zuges von Hamburg um ungefähr 8 Uhr morgens gingen die Hauptboten für den Landbezirk fort und kamen nachmittags zwischen 2 und 3 Uhr zurück, zeitig die für Hamburg und über Hamburg gehenden Briefe für den Zug um 3 Uhr nach Hamburg abgehen zu lassen.

Der Rundstempel, der einzige im Gebrauch zur Abstempelung von Briefen1) in der Zeit, deren ich mich erinnere, zeigt fünf verschiedene „Touren“, angegeben durch die lateinischen Buchstaben „I T“, „II T“, „III T“ etc., war zerbrochen, wann das geschah, weiß ich nicht, so daß dort nur die Zahl III sich zeigte, manchmal kopfstehend. Die Zeit, in der die verschiedenen Touren im Stempel geändert wurden (etwas, was ich auch unzählige Male selbst getan habe), sind ungefähr wie folgt: I T begann den Tag und war bis zirka 10 Uhr gebraucht. Dann ging ein Zug nach Hamburg und brachte Briefe von Preußen, Mecklenburg, Lauenburg und Holsteinischen Stationen an der Berlin-Hmaburger Eisenbahn, III ward nach 2 Uhr gebraucht (das Komptoir war von 12 bis 2 Uhr geschlossen), und wird dieser Stempel auf fast allen Landpost-Briefen zu finden sein. Nach Ankunft des Zuges um 3 Uhr begann Nummer IV und blieb bis 8 Uhr abends, wenn das Komptoir wieder geschlossen war bis 9.30 Uhr, wo es wieder für eine halbe Stunde offen war, um namentlich Postsachen für Berlin und weiter fertig zu machen für den Kurierzug, der durch Bergedorf um zirka 11 Uhr nachts ging; und daher werden wohl die meisten Briefe, die mit der Bergedorfer 4 Schilling-Marke frankiert waren, „V T“zeigen.

So lange, wie ich mich erinnere, wurde nur schwarze Farbe für die Stempel verwendet2). Diese Farbe aus Buchdruckerschwärze, die wir von der Druckerei der Bergedorfer Eisenbahn-Zeitung bekamen, bestehend, ward auf das ungefähr 6 Zoll Durchmesser große Kissen aufgetragen und dann mit Terpentinöl verdünnt, ein Prozeß, den ich sehr häufig selbst gemacht habe, so wie auch den Stempel im kochenden Wasser und Soda reingemacht.

Dieser Rundstempel muß noch kurze Zeit im Gebrauch gewesen sein, nachdem Bergedorf am 1sten Januar 1868 dem Norddeutschen Postbezirk beitrat, denn ich bekam einen Brief, der mit vier der 1 Groschen-Marken frankiert war, die durch den Rundstempel entwertet waren, aber nicht mit dem Strichstempel. Leider ist mir dieses Kouvert im Laufe der Jahre fortgekommen, aber ich erinnere mich der Sache ganz gewiß, weil es die ersten Marken des Nordeutschen Postbezirks waren, die ich gesehen hatte und ich mich derzeit wunderte, warum nur der Rundstempel und nicht auch der Strichstempel verwendet wurde. Möglicherweise war dies eine Anordnung der Postbehörden, denn alle späteren Briefe zeigten die Marken nur durch den neuen Ortsstempel entwertet. 

Wie viele deutsche Knaben, war auch ich schon als kleiner Junge ein eifriger Sammler, erst von Siegeln, von denen viele kamen, dann von Briefmarken, denn viele fremde Marken gingen durch die Bergedorfer Post. Vom Kap der Guten Hoffnung kamen Briefe und auch von Victoria und Neu-Südwales. Ein Engländer, der dort wohnte, bekam Briefe von Mauritius und Neu-Seeland, und zu der Zeit war es eine gewöhnliche Sache, Marken von Briefen abzumachen, ehe die Briefe bestellt wurden, und die Empfänger beschwerten sich nicht darüber.

Ich denke daran, welche schöne Marken mir derzeit zu Händen kamen, und wie solche durch die Schere und feste Einklebung beinahe wertlos gemacht wurden, aber das war ja, was alle jugendlichen Sammler derzeit taten. Bergedorf, zu der Zeit, von der ich spreche, war beiderstädtisches Gebiet, das heißt, es kamen jedes Jahr die sogenannte „Visitation“ aus Herrren von Lübeck und Hamburg bestehend und blieben eine Woche in Bergedorf, um alle Sachen Bergedorfs betreffend zu regulieren. Dieser Visitation unterbreitete mein Vater in 1859 den Vorschlag, Marken in Bergedorf einzuführen und erhielt den Auftrag, Proben solcher Marken machen zu lassen. Ich erinnere mich, daß, als er nach Hamburg ging, um durch die lithographische Firma Fuchs solche Proben herstellen zu lassen, er meine Briefmarkensammlung mitnahm, um Farben etc. für die neuen Marken auszuwählen. Ich hatte ihn auf die 1 kr. Oesterreich aufmerksam gemacht, alse eine Marke, die schlecht bei Licht zu erkennen war. Von den 5 Marken ward je ein Bogen gedruckt, und als die Visitation 1860 nach Bergedorf kam, unterbreitete mein Vater die Proben. Von jeder Marke klebte er einen Sechser-Block auf langes Aktenpapaier mit verschiedenen Anmerkungen. Von diesen waren je zwei Exemplare, eins für Lübeck und eins für Hamburg, und ich glaube, in hiesigen Zeitungen gelesen zu haben, daß, nachdem Lübeck seinen Anteil an Bergedorf an Hamburg verkaufte, und alle Akten Bergedorfs betreffend nach Hamburg kamen, unter diesen Akten die fünf Bogen wie oben beschrieben gefunden wurden3).

Die Visitation von 1860 tat nichts in dieser Sache, und es war erst 1861, daß es genehmigt wurde, Marken für Bergedorf einzuführen, jedoch wurden die Originaldrucke für den ½ und 3 Schilling als unpraktisch erklärt und für den ½ Schilling blaues Papier und für den 3 Schilling blauer Druck auf rosa gewählt. Das war im Mai 1861, und Marken wurden erst am 1 sten November gültig, und, soweit wie ich mich erinnere, sagt die Bekanntmachung nicht anderes als die fünf  Marken in den genehmigten Farben, darunter die ½ Schilling blau und 3 blau auf rosa, welches doch genügend zeigt, daß es niemals eine erste Ausgabe der ½ Schilling helllila und 3 rot mit schwarzem Druck gab, und solche Marken nur Essais waren. Von diesen Marken sind doch nur je ein Originalbogen gedruckt worden, und bis Bergedorf in den Norddeutschen Postbezirk ging, und die Restbestände der Bergedorfer Marken an Moens verkauft wurden, sind doch diese zwei Bogenstücke nur im Besitz meines Vaters gewesen.

Ich war viel im Postkomptoir und suchte mich dort nützlich zu machen. Oft genug habe ich Briefe gestempelt und als Spielerei Marken mit dem Strichstempel entwertet, erst einen Weg und dann den anderen, welches den Marken das Ansehen gab, als ob sie mit 25 kleinen Quadraten entwertet wären. Manchmal habe ich auch den Langstempel Bergedorf dazu verwendet, jedoch ohne Datum. Dieser Stempel wurde dazu benuützt, in Kartenformulare Bergedorf einzudrücken. Zwischen Bergedorf und Hamburg war ein ziemlich reger Verkehr, und mit deren Briefen und Sachen von anderen Plätzen gingen wohl oft mehr als 100 Briefe per Tag durch die Post, manche jedoch ohne Marken, da zu der Zeit es freibleibend war, mit Marken zu frankieren oder das Porto bar zu zahlen, oder auch die Briefe unfrankiert zu schicken.

Die fünf verschiedenen Werte der Marken waren notwendig für die verschiedenen Portosätze. Der ½ Schilling für Kreuzbände und später, als das Porto zwischen Bergedorf und Hamburg auf ½ Schilling von 1 Schilling herabgesetzt wurde, für Briefe nach Hamburg. Der 1½ Schilling und 3 Schilling für verschiedene Gebiete in Mecklenburg und der 4 Schilling für Preußen, Oesterreich und andere Plätze im deutsch-österreichischen Postverein. Für Kreuzband verwendeten manche Kollekteure der Hamburger Stadt-Lotterie viele ½ Schilling-Marken, um ihre Anzeigen nach Mecklenburg zu schicken. Dies geschah, weil die Lotterie in Mecklenburg verboten war, und sie daher diese Sachen nicht auf die Mecklenburgische Post in Hamburg geben konnten.

Im Bergedorfer Postamt wurden neben den eigenen Marken auch dänische 4 Skilling-Marken verkauft für den Gebrauch für Postsachen nach Holsteinischen, Schleswigschen und Lauenburgischen Postanstalten. Wenn solche Sachen mit einer 4 Skilling-Marke im Wert von 1¼ Schilling courant beklebt waren, so frankierte das den Brief. Wenn unfrankiert oder das Porto bar bezahlt wurde, kostete es 2 Schilling courant4). Warum es erlaubt war, weiß ich nicht, aber einige der Bergedorfer Kaufleute bedienten sich zwischen 1859/61 der Hamburger 1 Schilling-Marke, um Briefe nach Hamburg zu frankieren. Solche Marken können jedoch nur mit dem Bergedorfer Datumsstempel entwertet sein, denn der Strichstempel wurde erst eingeführt, als Bergedorfer Marken zur Ausgabe gelangten. Solche Marken namentlich auf Originalbriefen würden wohl große Seltenheiten sein, denn nur sehr wenige wurden so gebraucht.

Ob in dem, was ich oben geschrieben habe, sich etwas bisher Unbekanntes befindet, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß alles, was ich schrieb, klar und deutlich vor mir steht. Das Postamt, mein Vater auf einer Seite, der derzeitige Schreiber Fritz Röbert auf der anderen, die Briefträger, die die angekommenen Briefe, nachdem sie rückseitig abgestempelt waren, für ihre verschiedenen Wege aussortierten, ein kleiner Junge, der zwischen den Briefen einen gesehen hat, der eine Marke trägt, die er nicht in seiner Sammlung hat und versucht, die Marke abzulösen, ehe der Briefträger zum Fortgehen fertig ist, alles steht mir vor Augen, als sei es gestern gewesen.

Wenn nun in all der Spreu ein einziges Weizenkorn gefunden wird, das den Forschern nützlich ist, so würde ich mich sehr freuen, darüber zu hören.

 

John Paalzow.
Vineland, N. J. Januar 1927

 

 
 1) Verfasser meint damit den Briefstempel im Gegensatz zum Entwertungsstempel, will also damit sagen, daß seiner Erinnerung nach als Briefstempel überhaupt nur der halbkreisförmige Ortsstempel verwendet wurde.  
 2) Vergleiche jedoch über die Verwendung blauer Stempelfarbe i.J. 1855 die Feststellungen Dr. Werners in den Germania-Berichten vom Dez. 1926. Da Mr. Paalzow 1855 erst 7 Jahre alt war, so steht diese Feststellung keineswegs im Widerspruch zu seinen Angaben.  
 3) Verfasser dürfte den sog. Lübecker Fund vom Jahre 1912 meinen, bei dem aber nur noch die im Kohl-Handbuch I, S. 301, ausgegebenen Mengen gefunden wurden.  
 4) Ueber diese eigenartige Bestimmung der dänischen Postverwaltung bei der Einführung der Marken vergleiche Kohl-Handbuch I S. 776/77.